Cover
Titel
„Schleichwege“. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989


Herausgeber
Borodziej, Włodzimierz; Kochanowski, Jerzy; von Puttkamer, Joachim
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Zimmermann, Collegium Carolinum, München

Während die Zahl von Studien zu den offiziellen zwischenstaatlichen Beziehungen im sozialistischen Lager inzwischen gestiegen ist, werden die informellen Kontakte von Menschen über die Landesgrenzen hinweg in der historischen Forschung bislang recht stiefmütterlich behandelt. Ein Grund dafür dürfte die für die Analyse der Alltagsbeziehungen zwischen Bürgern sozialistischer Staaten schwierige Quellenlage sein. Ein weiterer mag sich mit dem Zweifel erklären lassen, ob es so etwas wie „informelle“ Beziehungen im östlichen Bündnis angesichts der umfassenden staatlichen Kontrolle überhaupt gegeben habe. Dass beide dieser denkbaren Einwände unberechtigt sind, zeigt der Sammelband „Schleichwege“ sehr beeindruckend. Er macht das große alltags- und kulturgeschichtliche Potential deutlich, das einer Beschäftigung mit den inoffiziellen Kontakten innewohnt – wobei die Grenzen zwischen inoffiziell/offiziell, wie auch die Herausgeber betonen, oft fließend waren.

Die Publikation präsentiert die Ergebnisse einer im Jahr 2008 veranstalteten Tagung in Florenz, die wiederum Teil eines mehrjährigen Projektes der Herausgeber zum Thema der inoffiziellen Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989 war. Ausgangspunkt für das Projekt bildeten Forschungen von Jerzy Kochanowski zum Phänomen des Schleichhandels, in denen dieser die große Bedeutung des inoffiziellen Warentausches sowohl für die spontane Aufbesserung der Versorgungslage als auch für die wechselseitige Wahrnehmung der Bürger sozialistischer Staaten herausarbeitete. Er konzentrierte sich dabei auf die in Südpolen nahe der Slowakei gelegene Stadt Zakopane, die wegen ihrer Grenznähe und ihrer für Touristen attraktiven Lage in einem Wintersportgebiet einen lohnenden Forschungsgegenstand für informelle Begegnungen darstellt. Im Rahmen des Projektes und auf der Konferenz wurden dann unter dem Begriff „Schleichwege“ alle möglichen Formen inoffizieller Kontakte untersucht bzw. diskutiert.

Der Band gliedert sich in mehrere Abteilungen: Den Anfang macht der Bereich „Grenzüberschreitungen und Verflechtungen“, in dem verschiedene Beispiele von inoffiziellen Beziehungen, etwa private Kontakte von DDR-Bürgern und Polen in Leipzig oder Begegnungen von Bewohnern der slowakisch-ungarischen Zwillingsstadt Komárom/Komárno beschrieben werden. „Tourismus und Schleichhandel“ als Ebenen inoffizieller Begegnungen sind teilweise getrennt, teilweise verbunden dargestellt unter anderem von Włodzimierz Borodziej in einem Beitrag über das polnische Reisebüro Orbis und von Jerzy Kochanowski in einem Artikel über „Massentourismus und illegalen Handel“. Unter den „Politischen Dimensionen“ des Oberthemas werden Kontakte zwischen Exil und Heimat, Dissidenten verschiedener Staaten und blocküberschreitende Kontakte verstanden. Zum einen anhand von Ausstellungen ausländischer Künstler in Polen, zum anderen anhand von kulinarischem Austausch werden „Kulturelle Transfers“ thematisiert. Im Abschnitt über die „Vertragsarbeiter“ schließlich wird dem Phänomen ausländischer Arbeitskräfte aus „Bruderstaaten“ in staatssozialistischen Gesellschaften an zwei Beispielen (Polnische weibliche Arbeitskräfte in der Tschechoslowakei und Ungarn in einer polnischen Fabrik) nachgegangen.

In dem grundlegenden (leider am Ende des Bandes platzierten) Beitrag „Der sozialistische Staat und die Kontakte seiner Bürger mit den Bruderländern“ beschreibt Jaroslav Kučera den politischen Rahmen sowie die ökonomischen Hintergründe der Beziehungen zwischen den Bürgern sozialistischer Staaten, wobei er die Tschechoslowakei intensiver berücksichtigt. Es wird deutlich, wie verwoben die offiziellen und inoffiziellen Ebenen miteinander waren. Die Regierungen bestimmten über eingeschränkten oder erweiterten Tourismus, das heißt über die formalen Bedingungen für das Reisen, gleichzeitig aber konnten die Bürger innerhalb dieses Rahmens ihre Kontakte relativ frei pflegen. Dabei macht Kučera ein Viereck bestehend aus der DDR, der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn aus, in dem eine besonders große Dichte von Reise- und Kontaktmöglichkeiten existiert hat. Für die jeweiligen Staatsführungen sei dieser intensive Austausch ambivalent gewesen: Obgleich er oft wirtschaftliche und auch aufgrund eines unerwünschten Wissens- und Meinungstransfers politische Probleme mit sich brachte, war jede Wiedereinschränkung der Reisemöglichkeiten letztlich mit großen Legitimationsproblemen verbunden.

Will man die Hauptergebnisse des Bandes zusammenfassen, dann sind zwei wesentliche Dimensionen der Kontakte zu konstatieren: erstens eine wirtschaftliche und zweitens eine imagologische. Die für die Begegnung von Bürgern sozialistischer Staaten spezifische ökonomische Dimension wird vor allem an dem in vielen Beiträgen beschriebenen inoffiziellen Handel deutlich. Durch die Ein- und Ausfuhr von Lebensmitteln und Konsumgütern aller Art versuchten Bürger der Mangelwirtschaft zu begegnen. Dies verursachte des Öfteren dort eine Verknappung bestimmter Waren, wo Besucher gerade kräftig eingekauft hatten. Der dadurch entstehende neue Versorgungsengpass wirkte sich nicht selten auf die zweite Dimension aus: die Selbst- und Fremdbilder. Misstrauen und Ärger über die jeweils anderen „Schleichhändler“, aber auch nationale Stereotypen konterkarierten nämlich recht häufig die offiziell gewünschten „freundschaftlichen“ Beziehungen – sei es wegen des Ausverkaufs von Gütern oder wegen eines als unangemessen empfundenen Auftretens von Besuchern.

Einblicke in die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der informellen Begegnungen bieten beispielsweise die Beiträge von Patryk Wasiak über „Ausstellungen verbotener Künstler aus Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR in polnischen Autorengalerien“, von Daniel Logemann über Kontakte zwischen DDR-Bürgern und Polen in Leipzig und von Mateusz J. Hartwich über Reisen von DDR-Bürgern in das (polnische) Riesengebirge. Wasiak belegt die große Bedeutung der Existenz von Kontakträumen – in diesem Fall Autorengalerien, in denen avantgardistische Kunst aus sozialistischen Staaten präsentiert wurde. Logemann und Hartwich wiederum arbeiten auch Distanz und Probleme zwischen Einheimischen und Besuchern heraus. Die Herausgeber betonen daher in der Einleitung, dass es um positive Bilder bei den sich begegnenden Menschen oft schlecht bestellt gewesen sei. Angesichts vieler überlieferter Problemfälle vermuten sie, es sei „wohl nur eine kleine, politisch denkende Minderheit“ gewesen, „die beim sozialistischen Nachbarn intellektuelle Freiräume erlebte, und diesen nicht als Konkurrenten, sondern als Freund und Gleichgesinnten wahrnahm“ (S. 20f.).

Dieser Feststellung ist allerdings nur zum Teil zuzustimmen, denn die inoffiziellen Begegnungen jenseits von Schleichhandel und oppositionellen bzw. von staatlicher Seite unerwünschten Kontakten und Erfahrungen sollten trotz aller Quellenprobleme nicht übersehen werden. Natürlich sind Konflikte, politisch motivierte Treffen und schließlich auch der Schleichhandel quellenmäßig leichter zu greifen als – von einigen Autoren des Bandes auch erwähnte – unspektakuläre, aber freundschaftliche Kontakte von Einheimischen und Fremden sowie Interesse an der Kultur der bereisten Länder. Hieraus ergibt sich vermutlich eine hohe „Dunkelziffer“ positiver Bilder vom Anderen. Überlegungen in diese Richtung aber ändern nichts daran, dass der Band „Schleichwege“ einen überaus gelungenen und differenzierten Beitrag zur Erforschung der Beziehungen zwischen und der Verflechtung von sozialistischen Gesellschaften leistet – der hoffentlich weitere Studien zum Thema anregen wird.